Rollenspiele gegen Hass im Netz
Das Projekt »LOVE-Storm« bietet in Schulen Workshops gegen Gewalt im Netz an. Jugendliche lernen in Online-Rollenspielen, wie sie auf Shitstorms, Cybermobbing oder Hasskommentare reagieren können. Ein Aufruf zur Zivilcourage.
Björn Kunter
Ein Angriff ist gemein. Das Schlimmste aber ist das Schweigen der Freundinnen und Freunde. So beschreiben Betroffene die Wirkung von Cybermobbing und Hass im Netz. Denn auf Angriffe im Netz reagieren die meisten Zuschauenden heute genauso wie früher auf öffentliche Gewalt. Gar nicht. Wer früher weggeschaut hat, muss heute einfach nur weiterscrollen. Dabei haben Schüler*innen in der Regel keine Probleme damit, digitale Gewalt zu erkennen. Die Unterscheidung zwischen Hatespeech, Shitstorms, Cybermobbing oder Hasskommentaren ist für Erwachsene oft verwirrend. Für die Schüler*innen zählt eigentlich nur: Ist es ein Angriff oder nicht? Und das können die Kinder und Jugendlichen in unseren Workshops in der Regel ganz gut benennen. Sie sehen, wo und wie ihre Mitschüler*innen verletzt werden.
Für die Schüler*innen zählt eigentlich nur: Ist es ein Angriff oder nicht?
Warum schauen sie dann zu und lassen die Angegriffenen alleine, wenn sie doch wissen, dass diese darunter leiden? Die Schüler*innen erklären das einerseits mit der Angst, selber angegriffen zu werden, und andererseits mit dem Gefühl von Hilflosigkeit: »Immer wenn ich so etwas sehe, fällt mir nicht ein, was ich tun könnte«, »Später ist mir dann noch eine coole Antwort eingefallen, aber ich habe es dann doch nicht hingeschrieben, dann wäre es ja vielleicht nochmal los gegangen« und »Die hören ja doch nicht auf, egal was ich sage« sind typische Antworten aus den Workshops, oft ergänzt durch eine Relativierung oder sogar Legitimierung der Gewalt. Dann heißt es etwa »Irgendwie ist der*die X ja auch selber schuld« oder »Ich weiß ja gar nicht, wer wirklich angefangen hatte.«
Die Jugendlichen laufen damit in die gleichen Fallen wie erwachsene Zeug*innen von Gewalt. Auf Gewalt reagieren Menschen mit Instinktreaktionen (Fliehen, Angreifen oder Erstarren), rationales Nachdenken ist dann nur noch schlecht möglich. Außerdem fühlen wir zwar den Schmerz der Angegriffenen, orientieren uns aber automatisch an der Gefahr, also am Angreifenden. Unsere Suche nach Lösungen verengt sich ausgerechnet auf die Personen, die wir zumindest in der Anonymität des Netzes am allerwenigsten beeinflussen können. Denn der gefühlten Statistik nach haben mindestens 98 Prozent der Diskutierenden nach einer Auseinandersetzung im Netz die gleiche Meinung wie vorher.
Workshops für Schulen
Demgegenüber nehmen wir in unseren Workshops und Materialien das ganze Gewaltsystem in den Blick und formulieren drei Ziele: Die Teilnehmenden sollen die Angegriffenen stärken, die Zuschauenden gegen den Hass mobilisieren und den Angreifenden gewaltfrei Grenzen setzen. Dieser Dreiklang ist die wichtigste und oftmals einzige Vorgabe in unseren Trainings. Alles weitere – wie sie diese Ziele erreichen, welche Fehler sie dabei vermeiden sollten und wie sie so den Hass stoppen können – erarbeiten sich die Jugendlichen selber.
Die Teilnehmenden sollen die Angegriffenen stärken, die Zuschauenden gegen den Hass mobilisieren und den Angreifenden gewaltfrei Grenzen setzen.
Hierzu hat LOVE-Storm eine eigene Web-Plattform für Online-Rollenspiele entwickelt, in denen die Teilnehmenden in die Rollen von Angegriffenen, Angreifenden und Zuschauenden schlüpfen und sich ausprobieren können. Je nach Gruppensituation und Thema wählen die Trainer*innen zwischen verschiedenen Szenarien aus oder arbeiten auch direkt mit einem Vorfall der Teilnehmenden. In der Schule gehen die Jugendlichen dann mit eigenen Endgeräten (Tablets, Computer, notfalls Smartphone) ins Netz, erhalten eine Rolle mit eigenem Namen und Profilbild und probieren ihre Ideen aus. Mit dem Wechsel ins Netz steigen sie augenblicklich in die neue Realität ein. Sie sind in der Regel sofort im Spiel und nehmen sich gegenseitig nur noch in ihrer Rolle wahr, oftmals sogar ohne zu wissen, wer sich hinter den jeweiligen Rollennamen verbirgt.
Nach kurzer Zeit wird das Spiel unterbrochen und entlang der drei Zielfragen ausgewertet. Dabei stellen die Trainer*innen sicher, dass alle drei Rollengruppen zu Wort kommen und ihre Erfahrungen gehört werden. So merken die Jugendlichen ganz von alleine, welche Ideen (nicht) funktionieren. Die Trainer*innen müssen ihnen nicht erzählen, dass Pöbeln nicht hilft oder dass es sich für Angegriffene schlecht anfühlt, wenn Zuschauende sich nur mit dem Angreifenden beschäftigen. Innerhalb von möglichst drei Durchläufen lernen die Jugendlichen aber auch, mit welchen Ansätzen sie die Gewalt in den Griff kriegen und wie sie mit jedem Rollenspiel sicherer werden. Am Ende des Trainings hat jeder Jugendliche ein, zwei Ideen, die er beim nächsten Mal, im echten Leben, ausprobieren kann.
Die Workshops für Schulen finden online oder vor Ort statt und dauern in der Regel zwischen zwei Schulstunden und einem halben Tag. In den längeren Trainings können dann auch Sonderthemen bearbeitet werden, wie der Umgang mit Rassismus, Verschwörungsmythen, Fake News oder Cybermobbing.
Und nach dem Workshop?
Mit solch kurzen Workshops können wir als Referent*innen aufgrund der Intensität des Lernerlebens zwar wichtige Impulse für einzelne Schüler*innen setzen. Auf die Dauer braucht es aber nachhaltigere Antworten und Praxisphasen, für die Teilnehmenden, für Lehrkräfte und für ganze Schulen.
Für die erwachsenen Teilnehmer*innen betreibt LOVE-Storm daher eine Aktionsplattform. Hier können Betroffene oder Zeug*innen Hassvorfälle melden, um die sich trainierte LOVE-Stormer*innen kümmern, die miteinander verbunden sind und sich so untereinander austauschen und unterstützen können. Niemand muss Hass im Netz alleine begegnen. So können die trainierten Teilnehmenden Erfahrungen sammeln und Sicherheit gewinnen.
Minderjährige können sich nicht auf der Plattform registrieren und waren bisher von der Teilnahme an Aktionen ausgeschlossen. In den letzten zwei Jahren haben wir aber genug Erfahrungen gesammelt, um den Rahmen vorsichtig zu erweitern und demnächst monatlich begleitete Aktionen anzubieten, bei denen auch Jugendliche und andere nicht registrierte Menschen Zivilcourage im sichereren Rahmen gemeinsam ausprobieren können.
Niemand muss Hass im Netz alleine begegnen.
Lehrkräfte wiederum können sich in eintägigen Workshops zu Multiplikator*innen ausbilden lassen und dann eigene Online-Rollenspiele durchführen. So bleibt die Expertise an der Schule und die Online-Rollenspiele können besser in größere Unterrichtseinheiten eingebunden oder zur pädagogischen Intervention in aktuellen Konflikten eingesetzt werden. Vor allem aber stehen dadurch inzwischen mehr als 300 entsprechend qualifizierte Lehrer*innen ihren Schüler*innen dauerhaft als Ansprechpartner*in zur Verfügung.
Der Artikel erschien erstmals im Themenheft Medienmündigkeit der Zeitschrift Pädagogik, Nr. 01/2021. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des BELTZ Verlages.
Björn Kunter leitet das Projekt »LOVE-Storm: Gemeinsam gegen Hass im Netz«. Seit den neunziger Jahren engagiert er sich als Trainer für Zivilcourage und gewaltfreie Bewegungen weltweit. Er entwickelte unter anderem das Konzept der »Aktiv gegen Rechts«-Trainings und förderte als Geschäftsführer des Bund für Soziale Verteidigung die Verbreitung des »No Blame Approach« gegen Mobbing.
LOVE-Storm – Gemeinsam gegen Hass im Netz
LOVE-Storm wird vom Bund für Soziale Verteidigung (BSV) getragen. Der BSV hat in den neunziger Jahren die Idee der Zivilcourage-Trainings entwickelt und unter anderem den »No Blame Approach« gegen Mobbing an deutschen Schulen verbreitet. Mithilfe des Programms »Demokratie leben!« des Bundesjugendministeriums konnte der BSV 2018 die LOVE-Storm Plattform gegen Hass im Netz launchen und inzwischen mehr als 2000 Menschen in Online-Zivilcourage trainieren.
https://love-storm.de