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Leseprobe: Die LOVE-Storm Strategien für digitale Zivilcourage

Im Buch „LOVE-Storm – Das Trainingshandbuch gegen Hass im Netz“ stellen wir die Strategien der digitalen Zivilcourage ausführlich v ...

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Im Buch „LOVE-Storm – Das Trainingshandbuch gegen Hass im Netz“ stellen wir die Strategien der digitalen Zivilcourage ausführlich vor. Diese dokumentieren wir hier als Leseprobe – mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das vollständige Buch ist im LOVE-Storm Shop und beim Wochenschau Verlag zu erhalten.

Die Symbole der drei LOVE-Storm Strategien: stärken, mobilisieren, stoppen

LOVE-Storm Strategien für Zivilcourage bei Hass im Netz

Überblick

           Wie auf Hass reagieren? Welche Strategien eignen sich? Was kann ich tun?

Bei der digitalen Konfliktdeeskalation kommt es darauf an, primär die Gewalt zu stoppen und zunächst keine tiefergehenden Schritte der Konfliktbearbeitung anzustreben. Das entbindet von der Verantwortung zu einer Konfliktlösung kommen zu müssen und erlaubt den intervenierenden Personen, sich auf die verschiedenen Ebenen der direkten Konfliktkommunikation zu beschränken.

Strategien gegen den Hass zielen auf verschiedene Parteien im Konfliktsystem. Die folgenden lassen sich unterscheiden:

  • Strategien zur Stärkung der Angegriffenen
  • Strategien zur Mobilisierung von Zuschauenden
  • Strategien für die Auseinandersetzung mit Angreifenden

Ziel von Zivilcourage-Trainings ist nicht eine möglichst umfassende Kenntnis möglichst aller Strategien, sondern die eigenständige Erarbeitung von ein oder zwei konkreten und verallgemeinerbaren Handlungsansätzen, die die Teilnehmenden so tief verankert und eingeübt haben, dass sie diese Strategien (Handlungsdispositionen) auch im Ernstfall aktivieren und einsetzen können.

Durch die Anwendung der Strategien lassen sich die Auswirkungen des ►Bystander Effects (siehe Kapitel 2.1) umkehren. Schon durch einen positiven oder alternativen Post kann die Starre aller Zuschauenden und die Diffusion der Verantwortung aufgelöst werden, indem Nutzer*innen an ihre eigene Verantwortung erinnert werden und dann tatsächlich handeln.

3.1 Strategien für digitale Konfliktdeeskalation

(Digitale) Zivilcourage ist im Kern ein Schutzkonzept.

Mit digitaler Zivilcourage können und sollen daher Konflikte nicht gelöst, sondern deeskaliert werden. Es geht also zunächst „nur“ darum, die Gewalt zu stoppen und alle Beteiligten voreinander zu schützen. Eine weitergehende Lösung oder grundlegende Bearbeitung des Konfliktes (vgl. Kapitel 2.2) ist erst einmal nicht vorgesehen.

Diese Begrenzung ist wichtig, denn sie befreit Eingreifende gleich zweifach. Erstens müssen sie keine Schuld suchen. Die Konfliktparteien müssen sich nicht rechtfertigen und es ist auch egal, wer angefangen hat. Es gilt der Grundsatz: „Hauptsache die Gewalt hört auf und der Hass wird gestoppt!“ Somit können sich Eingreifende darauf konzentrieren, die Gewalt zu deeskalieren.

Zweitens entbindet die Begrenzung die Eingreifenden von der Verpflichtung, sich mit den Angreifenden zu einigen. Das ist gerade im Internet wichtig, denn die Chancen einer wirklichen Verständigung oder gar Konfliktlösung sind im digitalen Raum stark eingeschränkt. Es fehlt in der Regel an Zeit, an vorhandenen Beziehungen und dem grundlegenden Vertrauen zwischen den Konfliktparteien. Zusätzlich erschweren Anonymität, Distanz und fehlender Augenkontakt die Bildung von Empathie und Verständnis (vgl. Kapitel 2.1). Es ist daher nicht überraschend, dass viele Netzdiskussionen damit enden, dass beide Gesprächspartner*innen ihre vorherige Meinung behalten.

Viel eher können Eingreifende in einer begrenzten Deeskalation das gesamte Konfliktsystem aus Angreifenden, Angegriffenen und Zuschauenden in den Blick nehmen und gezielt intervenieren.

Ziel von Zivilcourage ist es dann, vor allem die negativen Wirkungen von Hass und Gewalt auf Angegriffene und Zuschauende einzudämmen. Das Handeln der Angreifenden ist dagegen eher nebensächlich. Im besten Fall geht es darum, dass die Angriffe eingestellt werden.

Am Ende einer erfolgreichen Deeskalation ist der Weg auch offen für tiefergehende Dialoge und Konfliktbearbeitung zwischen den direkten Konfliktparteien (vgl. Kapitel 2.2).

LOVE-Storm hat dazu drei Ziele formuliert.

Wir wollen:

  1. Angegriffene stärken
  2. Zuschauende gegen den Hass mobilisieren
  3. Angreifenden gewaltfrei Grenzen setzen.

So stoppen wir den Hass im Netz!

3.2 Deeskalation praktisch: die Strategien anwenden

Für die Deeskalation bieten sich eine Reihe grundlegender Strategien an, die in Zivilcouragetrainings (mittels Rollenspielen) vermittelt und eingeübt werden (vgl. Kapitel 4.2). Auch diese Strategien lassen sich grob nach den drei Zielebenen unterscheiden: Strategien, zur Stärkung der Angegriffenen; Strategien zur Mobilisierung der Zuschauenden und Strategien, die auf die Angreifenden abzielen.

3.2.1. Strategien zur Stärkung der Angegriffenen

Verbale oder bildliche Gewalt kann Betroffenen schwere Leiden zufügen, insbesondere dann wenn ihnen niemand öffentlich zur Seite springt und sie sich mit der Gewalt alleingelassen fühlen. Viele berichten, dass sie das „Schweigen der Freund*innen“ stärker schmerzte, als der eigentliche Angriff (vgl. Kapitel 1.1).

Bei politischen Diskussionen und privaten Fehden wird Hass zudem oft gezielt eingesetzt, um Angegriffene zum Schweigen zu bringen und sie aus dem gemeinsamen Netzraum zu drängen (►Silencing). Besonders aggressive oder sexualisierte Angriffe können Betroffene aus dem Gleichgewicht werfen und blockieren, ihnen fehlen dann buchstäblich die Worte (vgl. Kapitel 1.1). Mit Strategien zum Schutz und zur Stärkung der Angegriffenen kann der Schmerz gelindert werden und ihnen dabei helfen, die Angriffe zu bewältigen, damit sie auch weiterhin mitreden können. Die Strategien sind im Einzelnen:

  • Fokus behalten (Demonstratives Ignorieren): Indem Eingreifende sich an den Themen der Angegriffenen aktiv beteiligen und auf ihre Themen eingehen, unterstützen sie die Angegriffenen und lassen die Angreifer*innen ins Leere laufen.
    z.B. freundlichen Kommentar auf Seite der*des Angegriffenen posten, der thematisch nichts mit dem Angriff zu tun hat.
  • Betroffenen das Wort geben: Angegriffene direkt ansprechen und ihnen damit eine Hilfestellung geben, aus der Opfer-Position herauszugehen.
    z.B. „Ich habe hier die Angriffe auf Dich gesehen. Wie schätzt Du das ein? Wie kann mensch Dich unterstützen?“
  • Projektion erklären: Wenn sich Angreifende und Angegriffene nicht persönlich kennen, richtet sich die Wut der Angreifenden nicht auf die angegriffene Person, sondern diese sind nur ein zufälliges Ventil. Indem Eingreifende dies klar herausarbeiten, helfen sie der angegriffenen Person, sich die Kommentare nicht zu Herzen zu nehmen.
    z.B. „Bitte nimm Dir das nicht zu Herzen, die [Angreifenden] müssen nur ihren Frust loswerden.“ oder „Hey, lasst X [Angegriffene] in Ruhe. Wenn ihr Eure Kindheitstrauma noch nicht überwunden habt, macht das mit Euren eigenen Sandkastenfreund*innen aus. X hat Euch damals nicht das Schäufelchen weggenommen.“
  • Virtuelle Umarmungen: Angegriffene direkt ansprechen und ihnen eine Hilfestellung geben, aus der Opfer-Position herausgehen zu können.
    z.B. „Hey, lass Dich nicht unterkriegen. Du bist bestimmt ein toller Mensch.“ oder „Wenn Du emotionale Unterstützung brauchst/reden magst, schreib mir gerne eine private Nachricht.“
  • marginalisierte Perspektiven schützen: Wenn Menschen, die nicht von einer bestimmten Diskriminierung betroffen sind versuchen den betroffenen Personen zu erklären, was diese Diskriminierung (wirklich) ist und wie sie damit umgehen sollten (►-splaining) oder darauf hinweisen, dass andere Betroffene sich „ja nicht so anstellen“ (►tokenism) sollte mensch einfordern, die Perspektive der betroffenen Person zu respektieren.
    z.B.: „Lass dich nicht verunsichern. Er kann als Mann gar nicht wissen, wie sich Frauenfeindlichkeit anfühlt.“ oder „Deine Perspektive ist nicht weniger wert, nur weil eine andere betroffene Person Deine Erfahrung nicht teilt. Was hier passiert ist, dass betroffene Stimmen durch Nicht-Betroffene gegeneinander ausgespielt werden und das ist nicht okay.“
  • Solidarität bekunden: Angegriffenen in privaten und öffentlichen Nachrichten Solidarität und Unterstützung zusichern.
    z.B. „Unglaublich wie Du hier beschimpft wirst, was geht nur in diesen Leuten vor? Auch wenn ich Deine Positionen nicht teile, finde ich Sie einen wichtigen Beitrag zur Debatte.“
3.2.2. Strategien zur Mobilisierung der Zuschauenden

Öffentliche Gewalt ist für Angreifende grundsätzlich riskant. Denn Menschen, die Angriffe auf andere beobachten, entwickeln normalerweise Mitleid. Sie versuchen, den Angegriffenen zu helfen und verurteilen die Gewalttäter*innen. Digital Angreifende kommunizieren daher, neben dem eigentlichen Angriff, immer auch mit den Zuschauenden. Sie versuchen die Zuschauenden auf ihre Seite zu ziehen, indem sie die Gewalt verstecken („War nicht so gemeint“) oder legitimieren („…hat sie*er doch verdient“).1

Vor allem aber versuchen sie sich als Vertreter einer existierenden oder fantasierten Gruppe darzustellen. Sie gerieren sich als Avantgarde einer schweigenden Gemeinschaft, die auszusprechen wagen, was „alle anderen denken“.

Digitale Gewalt enthält daher (fast) immer auch eine Einladung an die Zuschauenden, sich als Teil dieser Gruppe zu verstehen. Solange die Zuschauenden zur Gewalt schweigen, kann die Gemeinschafts-Illusion aufrecht erhalten werden und so ein Gruppendruck entstehen, sich ebenfalls konform zur vermeintlichen Gruppenmeinung zu verhalten. Diese Gruppen-Illusion und der damit einhergehende Konformitätsdruck sind schon in offenen Internet-Foren erkennbar. Vor dem Hintergrund echter Gruppenmitgliedschaften, wie zum Beispiel in einer Klassengemeinschaft, oder auch in geschlossenen facebook- oder Messengergruppen, nimmt der Konformitätsdruck noch einmal deutlich zu. Aber auch dort kann die Gruppenillusion aufgehoben werden, wenn andere Zuschauende widersprechen und sich so der Eingemeindung aktiv widersetzen.

Doch die Mobilisierung der Zuschauenden ist kein Selbstläufer. Menschen, die eine Gefahr und sei es auch nur verbale Gewalt beobachten, reagieren häufig „instinktiv“. Das Gehirn schaltet in den Bedrohungsmodus und löst die klassischen Instinktverhalten: „Flucht, Angriff oder Erstarrung“ aus. In der digitalen Kommunikation bedeutet das meistens: Unangenehmes, wie Angriffe, wird schnell weggewischt oder es wird weitergescrollt, Erwiderungen werden angefangen, aber nicht abgeschickt.

Sozialpsychologische Studien verweisen zudem darauf, dass Zeug*innen von Gewalttaten seltener eingreifen, wenn sie wissen, dass noch andere Menschen zuschauen. Dieser sogenannte ►Bystander Effect tritt auch im Internet auf (vgl. Kapitel 2.1). Denn die Anzahl der Zuschauenden ist im Netz theoretisch unbegrenzt. Aussagen wie, „Wenn die nicht helfen, muss ich es ja auch nicht“ oder „Irgendwie hat die* Angegriffene es ja auch verdient“ sind typische Erklärungen, mit denen Beobachter*innen ihr Nichthandeln rechtfertigen.

Umgekehrt gilt aber auch, dass Zeug*innen eher helfen, sobald sie sehen, dass andere auch eingreifen. Es gilt also: Schon ein einzelner positiver Kommentar führt dazu, dass andere ebenfalls leichter helfen.

Der erste Widerspruch erfordert den größten Mut und ist am wichtigsten. Dennoch ist es wichtig, auch noch weitere Zuschauende zu mobilisieren. Denn wenn der Widerspruch alleine stehen bleibt oder es den Angreifenden sogar gelingt, den Widerspruch als „feindliche Einzelmeinung“ abzuwehren, kann die Hass-Norm der Gruppe sogar gestärkt werden.

Rechtspopulistische Kommunikationsstrategien orientieren sich an Gramcis Hegemoniekonzept und setzen auf die Dominanz der Gruppe (vgl. Kapitel 1.5).Ihre Kommentator*innen versuchen daher regelmäßig den Eindruck einer großen Mehrheit zu erwecken, indem sie sich gegenseitig unterstützen.2

Um dieser scheinbaren Mehrheit nicht hilflos gegenüberzustehen und im besten Fall sogar neue „solidarische und menschenfreundliche“ Gruppennormen zu setzen, haben sich die folgenden Strategien zur Mobilisierung der Zuschauenden bewährt:

  • Benennen von menschenverachtenden und abwertenden Äußerungen (Deframing): Angreifende versuchen oft, die Gewalttat zu verbrämen. Dann war alles „nur ein Spaß“, „gar nicht so gemeint“, „die Betroffenen sollen sich nicht so anstellen“ oder „haben es provoziert“. Indem Angriffe als solche benannt werden und der Hassvorfall als solcher skandalisiert wird, können die Empörung und Empathie der Zuschauenden mobilisiert werden. Eingreifende gewinnen durch die Benennung die Sympathien derjenigen, die später ebenfalls solidarisch intervenieren (würden).
    z.B.: „Also was hier geäußert wird, finde ich menschenverachtend und ziemlich erschreckend“.
  • Zustimmen (Liken): Gibt es schon andere Menschen, die sich gegen den Angriff positionieren? Dann kann die Eingreifende ihnen zustimmen. Durch das „Like“ auf ihre Beiträge wird Zustimmung angezeigt. Darüber hinaus können Nutzer*innen sich auf positive Positionen beziehen und diesen so zeigen, dass sie nicht alleine sind. Hier kommen die Antwort-Funktionen der Plattformen den Eingreifenden zugute, da so die Betreffenden über die Zustimmung informiert werden. Zudem wird der positive Originalbeitrag von vielen Soziale-Medien-Plattformen dann noch einmal separat hervorgehoben.
    z.B. „@NAME hat Recht: Das ist ein vernünftiger Vorschlag. Mich würden interessieren, was andere davon halten.“
  • Regeln einfordern: Angreifer*innen werden Grenzen gesetzt und Zuschauende werden mobilisiert. Indem sich Eingreifende auf allgemeingültige Regeln berufen, kann Legitimität für Diskussionsgrenzen erzeugt werden.
    z.B. „Wenn wir hier eine vernünftige Diskussion führen wollen, bringen uns Beschimpfungen nicht weiter.“
  • Zuschauende direkt ansprechen: Zuschauende werden angeregt, sich zu positionieren und in Aktion zu treten.
    z.B. „Sehen das alle so? Gibt es noch Andere, die diese Aussage problematisch/entwertend finden?“
  • Humor: Kann einem Perspektivwechsel dienen und Dinge ins Absurde verkehren. Humor kann Hassvorfälle „entkräften“ und eine andere Stimmung in den Verlauf der Kommunikation bringen. Aber Humor ist ein zweischneidiges Schwert. Zum einen kann das Lachen über Angreifende leicht selbst als aggressiv wahrgenommen werden, so dass Angreifende sich als Opfer inszenieren können. Zum anderen kann es Angegriffene verletzen, wenn über einen Angriff auf sie mit einem Lachen zur Tagesordnung übergegangen wird.
    z.B.„Ja, zum Schutz der deutschen Kultur sollte es nur noch Bratwurst, Kartoffeln und Sauerkraut geben. Alles andere sollte verboten werden. Weg mit Pizza, Spagetti und Döner, weg mit Multi-Kulti-Fraß!“
  •  Sich positionieren/Haltung zeigen: Diese Strategie hilft Zuschauenden zu erkennen, dass es unterschiedliche Meinungen gibt und ermutigt sie, sich anzuschließen und bricht den ►Bystander Effect. Ein knappes „Nein das sehe ich anders“ ist daher auch dann sinnvoll, wenn Eingreifende keine Zeit für ausführliche Diskussionen aufbringen wollen oder können.
  • Argumentieren: hilft Zuschauenden, sich eine eigene Meinung zu bilden.
    z.B. „Wir können nicht alle Geflüchteten aufnehmen, aber wer hat das gefordert und wie kommen Sie überhaupt darauf, dass alle kommen wollen? Deutschland ist nicht mal unter den sechs größten Aufnahmeländern für Geflüchtete. Das ökonomisch schwache Pakistan hat 2016 mit 1,4 Millionen viel mehr Geflüchtete aufgenommen. Deutschland ist ein reiches Land, wir haben auch eine Verantwortung gegenüber schutzbedürftigen Menschen.“
  • Framing: Fakten werden von Menschen immer interpretiert und in Erzählungen verpackt. Durch geschickte Wortwahl und Perspektivenwechsel können zivilcouragiert handelnde Menschen den Rahmen der Erzählung (neu) setzen. So müssen etwaig behauptete Vorfälle nicht verneint, sondern „nur“ richtiggestellt werden. So kann die Geschichte neu erzählt werden, möglichst ohne den Hate-Inhalt zu wiederholen.
    z.B. der Vorwurf, die Aufnahme von Geflüchteten würde zu mehr Terroranschlägen führen. Position: „Geflüchtete kommen hierher, weil sie Schutz vor Krieg, Verfolgung und Terror suchen. Geflüchtete wünschen sich, was alle wünschen: Ein friedliches Leben, ein Dach über dem Kopf, eine Arbeit zu haben. Geflüchtete mit Terroristen gleichzusetzen, ist falsch. Terroristen sind Terroristen. Geflüchtete sind Menschen, die vor Terror und Krieg fliehen.“
    Schreiben Sie nicht nur: „Geflüchtete sind keine Terroristen“, weil so der Zusammenhang „Geflüchtete = Terrorist“ bestehen bleibt, auch wenn er verneint wird.
  • Sich organisieren und Hilfe holen: Zuschauende müssen nicht unbekannte Fremde im weiten Netz sein. Sich gezielt mit Freund*innen zusammenzutun und Strategien zurechtzulegen kann als Strategie viel wirksamer sein. Sucht euch eine Handvoll Leute und vereinbart Strategien, die ihr gemeinsam gut umsetzen könnt. Verständigt euch über Themen, bei denen ihr gemeinsam eingreifen wollt. Schickt euren Verbündeten Privatnachrichten und bittet sie eure Kommentare zu liken oder mithilfe der vereinbarten Strategie gemeinsam Grenzen zu setzen.
3.2.3. Strategien für die Auseinandersetzung mit den Angreifenden

Angreifende ergreifen die Initiative. Sie eröffnen eine Hasskommunikation mit kontrollierten Regelverstößen und wollen Zuschauende zwingen, bei ihrem schlechten »Spiel« mitzumachen3. Typische Verhaltensweisen wie Gegenangriffe, Rückzug aus der Diskussion, „Verletzt sein“ etc. sind Teil dieses Spiels. Sie werden von den Angreifenden erwartet und können das destruktive Handeln nicht beenden. Daher müssen Strategien, die sich an die Angreifenden wenden, nicht nur die Spielregeln, sondern das gesamte Spiel verändern wollen. Dazu können drei grundlegende Varianten von „Gegen-Spielen“ unterschieden werden:

  1. Mit Solidaritätsspielen wird verhindert, dass der Angriff wirkt, indem Angegriffene gezielt gestärkt und Zuschauende mobilisiert werden. (siehe oben, Kapitel 3.1)
  2. Mit Null-Toleranz-Spielen können Angriffe abgeschreckt werden, wenn Angreifende erfahren, dass ihr Verhalten nicht geduldet wird und negative Konsequenzen (wie zum Beispiel den Ausschluss aus der Gemeinschaft) hat.
  3. Mit konstruktiven Spielen ermöglichen Eingreifende die Schaffung anderer und konstruktiverer Beziehungen zum Angreifenden.

Der Vorteil der ersten beiden Spielsorten ist, dass sie sich weitestgehend ohne die Angreifenden spielen lassen. Jede Auseinandersetzung mit Angreifenden ist dann nur eine Inszenierung des eigenen Spiels, um die anderen Zielgruppen zu erreichen. Damit können Eingreifende wieder die Oberhand im Handeln erlangen und eigenständig agieren, anstatt sich von Angreifenden treiben zu lassen.

Wichtig für diese Interventionen sind konstruktive Verhaltensweisen. Das Netzwerk Kleiner Fünf hat dafür den Begriff „radikal höflich“ geprägt.4 Diese gewaltfreie Haltung sollte (nicht nur) aus strategischen Gründen gewählt werden, damit sich Angreifende nicht als Opfer stilisieren können, keinen Rückhalt der Zuschauenden gewinnen und ihren Angriff leichter (gesichtswahrend) beenden können. In den meisten digital ausgetragenen Konflikte ist das alles, was unter den gegebenen Umständen erreichbar scheint. Im Normalfall macht es daher wenig Sinn, sich mit Zivilcourage auf die Angreifenden zu konzentrieren. Die Arbeit für Angegriffene und Zuschauende ist wichtiger und erfolgversprechender (vgl. Kapitel 3.2.1 und 3.2.2).

Nichtsdestotrotz gibt es manchmal auch gute Gründe, ernsthaft auf Angreifende zuzugehen und wirkliche Verständigung zu suchen: Zum einen kommt es immer wieder vor, dass die Eingreifenden die Angreifer*innen doch persönlich kennen und sie sich nicht aus dem Weg gehen können oder wollen. Unter Kolleg*innen, Freund*innen oder Verwandten ist der „Einsatz“ bei Auseinandersetzungen automatisch höher. Dadurch steigt der Druck, aber es eröffnet auch Gelegenheiten, sich ernsthaft auf die*den jeweils Anderen einzulassen. Zum anderen treffen Eingreifende aber auch immer wieder einmal auf Angreifende, die sich auf einen echten Dialog einlassen wollen. Dann sollten sie darauf auch ehrlich eingehen können, um diese seltenen Möglichkeitsfenster zu nutzen.

Je nachdem ob die Eingreifenden den Angreifenden nur gewaltfrei Grenzen setzen, oder mit ihnen in einen Dialog gehen wollen, empfehlen sich unterschiedliche Strategien:

  • Sachlich dran bleiben: In seltenen Fällen lassen sich auch Angreifende mit Argumenten erreichen. In allen anderen Fällen hilft es zumindest den Zuschauenden. Dafür ist es wichtig, den Angreifenden in die sachliche Diskussion zu verwickeln und keine Anlässe für emotionale Ausbrüche (Opfer-Spiele) zu geben, nicht auf Provokationen einzugehen und möglichst auch kein Themenhopping zuzulassen.
  • Nachfragen und Fakten einfordern: Nachfragen kann Angreifende in Erklärungsnot bringen und das einfache „Raushauen“ von Behauptungen unterbrechen. Zudem entsteht der Druck, Aussagen nachvollziehbar zu begründen.
    Z.B. „Wie kommen Sie zu der Aussage, dass gleichgeschlechtliche Paare weniger für die Kindererziehung geeignet sind? Gibt es dafür nachvollziehbare Argumente?“
  • Gemeinsamkeiten finden: Hass braucht klare Feindbilder. Um Gewalt anwenden und rechtfertigen zu können, nehmen Gegner*innen daher nur die Unterschiede zwischen sich wahr. In der Realität verbindet Menschen jedoch oft viel mehr, als sie trennt. Mit einem Blick in das Profil des Angreifenden oder im Gespräch lassen sich oft viele Anknüpfungspunkte finden. Indem den Angreifenden gegenüber betont wird, was beide oder alle Seiten miteinander verbindet, wird die einfache Feindbildkonstruktion durchbrochen und eine Basis für gegenseitige Anerkennung geschaffen. Alternativ lassen sich durch eine ganzheitliche Darstellung der eigenen Person (bspw. Indem Hobbies, Familie, Heimatorte, Schulgeschichten etc. in die Kommunikation einfließen) allzu einfache Verortungen durch pauschale Anwürfe der Angreifenden verhindern. Je umfassender die Verortung, desto weniger lassen sich Menschen in ein Freund-Feind-Schema pressen.
  • Motivebene ansprechen: Um hinter die Positionen der Parteien schauen zu können, sollte die Spielebene verlassen und auf die Motivebene gewechselt werden. So kann auf die zugrundeliegenden Motive und Bedürfnisse der Angreifenden eingegangen werden. Bedürfnisse können Eingreifende in der Regel leicht anerkennen. So setzen sie ein Zeichen des guten Willens und geben Angreifenden die notwendige Sicherheit. Damit lassen sich manchmal Brücken bauen, Angreifende besänftigen und wieder in einen Dialog bringen. Danach können alternative Lösungen vorgeschlagen oder auch gemeinsam gesucht werden .
    Z.B. „Ich verstehe, dass Du es ungerecht findest nach 45 Jahren Schichtarbeit mit einer solch niedrigen Rente abgespeist zu werden. Wir alle wollen gerecht behandelt werden.“
  • Paradoxe Intervention: Angreifende haben klare Vorstellungen davon, wie Angegriffene und Zuschauende auf ihre Provokationen reagieren werden und sind darauf gut vorbereitet. Betroffene und Zuschauende können mit etwas Kreativität die Situation so verändern, dass Angreifende irritiert und aus diesen Mustern herausgerissen werden.
    z.B. „Hi, deinem Profilbild nach zu urteilen, kochst Du sehr gerne. Kannst Du mir das Rezept von dem Auflauf geben?“
  • Schreibe Dein eigenes Drehbuch: Wenn Eingreifende die Situation so offen auslegen, dass sie das Spiel verändern und auch andere konstruktivere Rollenauslegungen möglich sind, können dadurch für Angreifende auch Brücken gebaut werden, über die sie ihr destruktives Verhalten verlassen und sich konstruktiv integrieren können.
    Z.B. „Ich fürchte Unvoreingenommene könnten Deinen Post als Cyber-Mobbing missverstehen. Ich weiß aber, dass Dir unsere Klassengemeinschaft sehr wichtig ist. Wollen wir beide mal überlegen, wie wir das Gemeinschaftsgefühl bei uns stärken können. (ggf. als private Nachricht)“
  • Spiegeln / Reframing: Mittels dieser Strategie gibt die eingreifende Person das Gesagte in ihren eigenen Worten wider. So signalisierst sie, dass sie zugehört und das Anliegen der Angreifenden wahrgenommen hat. Angreifende erhalten einerseits so die Möglichkeit, ihre Ansicht gegebenenfalls noch korrigieren zu können und alle Beteiligten haben danach eine gemeinsame Lesart davon, was von der Angreifer*in „gemeint war“. Wiederholen heißt dabei nicht zustimmen. Danach kann und soll durchaus weiter gestritten werden. Diskussionen verlaufen dann aber in der Regel sachlicher, weil der Gegenstand und die unterschiedlichen Sichtweisen pointierter vorliegen. Außerdem kann es die Situation entspannen, weil Angreifende nicht mehr darum kämpfen müssen, gehört zu werden. Eingreifende müssen beim „Spiegeln“ darauf achten, nicht versehentlich Hass und Hetze bei der Wiedergabe in eigenen Worten zu reproduzieren.
    Z.B. „Habe ich Dich richtig, verstanden, dass Du der Meinung bist kriminelle Ausländer*innen sollten abgeschoben werden, weil Dir die Kriminalitätsentwicklung Angst macht? Ja?“ … „Das kann ich verstehen, aber ich glaube nicht, dass Du so Deine Angst loswerden wirst, weil…“

Um diese Strategien später sicher und schnell zum Einsatz bringen zu können, werden sie in LOVE-Storm Online-Rollenspielen eingeübt. Diese Trainings simulieren eine Echtzeitkommunikation im Chat und erlauben den Teilnehmer*innen den Erwerb von Handlungswissen. Diese emotional verankerten Wissensbestände lassen sich dann in Stresssituationen während einer realen Interaktion leichter hervorrufen und anwenden.

Da die Intervenierenden auch die LOVE-Storm Ziele verinnerlicht haben, können sie auch schnell entscheiden, ob und in welchem Maße Betroffenen geholfen wird und Zuschauende mobilisiert werden, bevor sie sich auf eine Interaktion mit den Angreifenden einlassen.

Fußnoten:

1Brian Martin unterscheidet fünf verschiedene Wege mit denen Gewalttäter*innen die Empörung der Zuschauenden eindämmen können. Mehr dazu unter: <https://www.bmartin.cc/pubs/backfire.html>

2Vgl. ISD (2018, S.2): Mehr als 50% der Likes auf Hate-Speech kamen in der Studie von nur 5% der Accounts.

3Wir verwenden in diesem Handbuch einen abstrakten, wissenschaftlichen Spielbegriff. Hier werden realweltliche Situationen als „Spielsituationen“ begriffen, in denen Akteure (oft regelbasiert) handeln, strategisieren, „Züge machen“. Das „Spiel“ meint dann die Gesamtheit der Aktionen und ihre Wechselwirkungen miteinander – die somit auch als zusammengehöriges Aktions-System verstanden werden können und müssen.

4Vgl. Kleiner Fünf (o.J.): Argumentationshilfen. Rechtspopulismus Paroli bieten: Souverän durch schwierige Gespräche! URL: <https://www.kleinerfuenf.de/de/argumentationstechniken>

Einführung der Strategien im Training

Ziel von Zivilcourage-Trainings ist nicht eine möglichst umfassende Kenntnis möglichst aller Strategien, sondern die eigenständige Erarbeitung von ein oder zwei konkreten und verallgemeinerbaren Handlungsansätzen, die die Teilnehmenden so tief verankert und eingeübt haben, dass sie diese Strategien (Handlungsdispositionen) auch im Ernstfall aktivieren und einsetzen können.

In der Regel entwickeln die Teilnehmenden diese Ansätze aus dem eigenen Handeln im Rollenspiel heraus. In der Reflexion helfen die Trainer*innen dann nur noch dabei, aus den Ideen, die sich im Rollenspiel ergeben, allgemeingültige Strategien zu formulieren. Dennoch kommt es manchmal vor, dass eine Gruppe keine eigenen Ideen entwickelt, so dass die Trainer*innen den Teilnehmenden Strategien anbieten müssen. Hierbei haben sich fünf Wege bewährt:

  1. Fragen an die Rollenspieler*innen: „Was hättest Du als Angegriffene / Zuschauende / Angreifende gebraucht, damit…“ oder Suggestionen wie „Hätte es Dir in Deiner Rolle geholfen, wenn …“ helfen den Teilnehmenden oftmals, doch noch eigene Ideen zu entwickeln.
  2. Trainer*innen können selbst Impulse setzen und im Rollenspiel einzelne Strategien anwenden, deren Wirkung später gemeinsam reflektiert werden kann.
  3. Gruppen, die sich unsicher fühlen, können vor dem Rollenspiel Ideen gemeinsam entwickeln oder als Gruppe sammeln, so dass die einzelnen Teilnehmer*innen aus einer Liste von Lösungsideen auswählen können.
  4. Teilnehmenden mit eher akademischem Lernverhalten können Strategien auch präsentiert oder als Text übergeben werden, um diese dann im Rollenspiel auszuprobieren.
  5. Im Rahmen vorbereiteter Szenarien können einzelne Strategien auch als Aufgabe in die Rollenbeschreibung integriert oder als Spezialaufgabe separat an einzelne Rollenspieler*innen verteilt werden.

Bei der Einführung der Strategien sollte betont werden, dass sich nicht alle Optionen für alle Menschen und Situationen eignen. In der Reflexion aller Strategien sollten daher neben Chancen auch Grenzen und Risiken der jeweiligen Ansätze herausgearbeitet werden. )

(Mehr zum Training in Kapitel 4)